BLUTIGE HIMMELSSCHLÜSSELBLUMEN
Die Johannes-Passion, bearbeitet von Robert Schumann, gesungen von der Sing-Akademie Berlin
(...) Rumort da das endlose Heer der Schatten, klappern die Knochen im offenen Gebeinhaus, ist es das "Zittern der Totenasche", wovon Jean Paul berichtet in seiner "Siebenkäs"-Vision vom Jüngsten Tag, in der "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei"; und "einer um den anderen wurde durch das Zittern zertrennt, und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es"?
Für den Hilferuf "Vater, wo bist du?" tritt Schauspieler Thorsten Heidel drei Schritt zurück vom Mikrofon, er brüllt auch so laut genug: "Kein Gott!" Flüstert: "Er ist nicht!" und reckt und schüttelt die Faust, als sei er Ernst Busch.
Dann setzt sich Heidel wieder hin, und die Sing-Akademie antwortet ihm und widerspricht, mit der süßsauren Schmerzlust der Durchgangsdissonanzen, Gott gebe es eben doch. Insgesamt sechsmal wird Bachs sittliche Passionsmusik unterbrochen von der unsittlichen Jean-Paulschen Brandrede. Die Wirkung ist stark. Aber auch die Johannes-Passion klingt fremd und anders, fülliger, plüschiger, einige Arien fehlen, andere haben ein neues Mäntelchen umgehängt aus schwärzlichen Klarinettenklängen, zum Teil sind den Choralzeilen instrumentale Melodieschwänzchen gewachsen. Musiziert wird "original" die Bearbeitung, die Robert Schumann 1851 bei der Wiederaufführung der Bachschen Johannes-Passion in Düsseldorf vornahm. Und es ist sofort klar, dass Schumann, unser musikalischer Jean Paul, sich lieber diese dunklere der Bach-Passionen vornahm, in der viel heftiger gehadert und gegeißelt wird und so viel böses Blut tropft aus den Dornen auf die Himmelsschlüsselblumen, dass notwendig alles wieder gut werden muss.
Wer vorher todmüde war, der ist hinterher glockenwach. Was vorher verwirrend schien, ist jetzt wohlsortiert, durchsichtig. Beseligend läuternd ist diese Passionskur, das Sonnengeflecht blüht auf. Mitten im Applaus, als alle aufstehen und den Musikern zujauchzen: dem strahlenden Evangelisten Maximilian Schmitt, der Sing-Akademie und ihrem Chef Kai-Uwe Jirka, den Domchorknaben und der feinen Symphonischen Compagney; da dreht sich ein Pärchen am Rand der Empore, ohne das Klatschen einzustellen, einander zu, um sich lange, lange zu küssen.
F.A.S., 4. April 2010, Eleonore Büning
DOPPELTE PASSION
Singakademie zu Berlin in der Gethsemanekirche
Warum führen wir Bachs Passionen auf? Warum besetzen wir sie mit großen Amateurchören? Warum begleiten wir sie mit modernen oder historischen Instrumenten? Und welche Haltung nehmen wir zu ihrer religiösen Botschaft ein? Deutlich wie kein anderes Ensemble nimmt die Singakademie zu Berlin, die sich in den letzten Jahren zu einem der dramaturgisch interessantesten Chöre der Stadt entwickelt hat, zu diesen Gretchenfragen Stellung. Denn die Aufführung der Johannes-Passion in der Fassung von Robert Schumann, die von der Symphonischen Compagney auf annähernd zeittypischen Instrumentarium begleitet wird, beleuchtet einen historischen Wendepunkt: Nämlich den Moment, an dem Bachs Werk von dem Todesschlaf auferstand, in den es die Aufklärung geschickt hatte.
Ein großartiger Coup ist es, dass man die Passion mit einem Schlüsseltext von Schumanns Lieblingsschriftsteller Jean Paul kombiniert: Der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“. Von Thorsten Heidel überaus eindrucksvoll rezitiert, steht die Albtraumvision einer nihilistischen Offenbarung gleichberechtigt neben Bachs Passion: Sich mit ihr verzahnend erzählt der Abend so auf schumannisch-doppelgesichtiger Weise von zwei bis heute scheinbar unvereinbaren, aber dennoch mit gleicher Intensität gefühlten Wahrheiten. Besonders der von Kai-Uwe Jirka geleitete Chor zeigt von der Artikulation bis hin zu den Körperbewegungen an, wie sehr ihn die Rolle motiviert, nicht bloß als Verkündender, sondern als Gegenspieler in einem aktuellen Konflikt aufzutreten. Das Publikum in der bis zum Bersten gefüllten Gethsemanekirche dankt es ihm mit mächtigem Applaus."
Der Tagesspiegel vom 04. April 2010, Carsten Niemann
IN DIESER VIELSEITIGKEIT EINMALIG
Es ist überfällig, einmal etwas über die Arbeit von Kai-Uwe Jirka zu sagen. Denn einen unermüdlicheren Musikausgräber als den Direktor des Staats- und Domchores hat es in Berlin nie gegeben. Fast jeden Monat wartet der 42-Jährige mit interessanten Funden auf . (...) Die Konzerte, die Jirka in den letzten Jahren präsentiert hat, haben ein Abbild geistlicher Musizierpraxis im Deutschland des 18. und frühen 19. Jahrhunderts gezeigt, das in dieser Vielseitigkeit einmalig ist: Werke anonymer Komponisten, Bearbeitungen und Unbekannteres von den Stars der Epoche. Natürlich stammt vieles von diesen Funden aus dem Archiv der Sing-Akademie zu Berlin, deren künstlerischer Leiter Jirka seit 2006 ist und deren finanzielle Ressourcen es ihm ermöglichen, seine Entdeckungen auf einem konstant hohen musikalischen Niveau zu präsentieren. Der halb professionelle Chor aus jungen Stimmen, den er sozusagen als Elitetruppe der Sing-Akademie formiert hat, gehört zu den besten Berlins und für die Instrumentalbegleitung kann er immer wieder so ausgezeichnete Ensembles wie die Lautten Compagney heranziehen. Die Neugier Jirkas reicht aber weit über die Bestände seines Sing-Akademie-Archivs hinaus. Für Karfreitag hat er einen besonderen Coup gelandet: In der Gethsemanekirche gibt es die einmalige Gelegenheit, Bachs Johannes-Passion in der Bearbeitung Robert Schumanns zu erleben – nach einer (bislang ungedruckten) Aufführungspartitur, die im Zwickauer Schumann-Haus aufbewahrt wird. Zwar ging Schumann für die Aufführung des Werks, die er 1851 in Düsseldorf veranstaltete, nicht so weit wie sein Freund Mendelssohn 22 Jahre zuvor mit Bachs Matthäus-Passion, doch die Kürzungen, Retuschen und Uminstrumentierungen dürften reichen, um das Stück in ein neues, romantisches Licht zu tauchen. (...)
Der Tagesspiegel, 28. März 2010, Jörg Königsdorf
Der ganze Artikel hier: http://www.tagesspiegel.de/kultur/art772,3068458
ÜBERRASCHEND, LEIDENSCHAFTLICH, GEWITZT
Ein Aquarellbild blieb übrig – Mendelssohn als Barthobby – und der Nachklang von Felix Mendelssohn Bartholdys Variations sérieuses. Unter der Leitung von Kai-Uwe Jirka ging kurz vor Mitternacht ein zauberhaft musikalischer Abend bei heftigem Applaus zu Ende. Zwölf Dichter und Komponisten waren von der Sing-Akademie zu Berlin aufgefordert, sich auf die Variation als Verfahren einzulassen. Die Variation als Technik einer Umschrift, Übertragung, auch Kritik durch elf andere Sprachen, Stile und Ansätze in mindestens fünf Variationen sollte praktiziert werden. (...). Auf magische Weise bleibt ein äußerst polyphones Konzert als Gesamteindruck und Gesamt-Kunstwerk zurück (…). Kein Wagnersches, sondern ein, wenn man es einmal so formulieren darf, Filipssches Gesamt-Kunstwerk. Der Dramaturg der Sing-Akademie, Christian Filips, der auch selber Dichter und Sänger ist, hatte nicht nur die Künstler eingeladen. Er hat auch die Beiträge verknüpft und dem Abend die Form gegeben (...). Überraschend, die Hörer fordernd, professionell, einem ausgeklügelten Regelwerk folgend, leidenschaftlich, gewitzt und vor allem niemals langweilig. Immer wieder greift der Hörer nach einem Satz, einer Formulierung, die im Moment ihres Gehörthabens schon wieder entglitten ist. Der Klang wird wichtiger gewesen sein als eine Erzählung. Sinnlichkeit statt Sinn. (…) Ein komplexes Spiel mit wenigen, aber wirkungsvollen Regeln. (…) In seiner Einzigartigkeit wird sich dieser Abend nicht wiederholen lassen. Darin war er ein unwiederbringliches Musikereignis im Kompositionsleben der Stadt.
Nightout@berlin, 10. März 2010, Torsten Flüh