WIR RETTEN DIE CHAUVINISTEN VOR SICH SELBST
Darüber hat man im Debussy-Jahr 2012 bislang wenig gesprochen, wo doch sonst so viel von Aufbruch und Innovation die Rede war: Claude Debussy hat 1911 eine Grenze überschritten, und zwar in eine Richtung, die von den Anwälten der klassischen Moderne gern als "Antimoderne" gebrandmarkt wird - statt sie als eigene Gestalt der Moderne zu begreifen. In jenem Jahr nämlich tat sich Debussy mit dem Dichter Gabriele D'Annunzio, dem späteren Stichwortgeber der italienischen Faschisten, zusammen und schrieb eine Musik zu dessen Mysterienspiel "Le Martyre de Saint Sébastien".
Beide Künstler widmeten das Stück Maurice Barrès, dem Sprachrohr des französischen Rechtsextremismus, einem Prediger von Judenhass und Deutschenhass, der dann ab 1914 mit einem deutschfeindlichen Zeitungsartikel pro Tag zum produktivsten Kriegstreiber und Volksverhetzer Frankreichs avancierte. Barrès war, wie Debussy auch, glühender Anti- Dreyfusard, also Gegner des damals zu Unrecht wegen Spionage verurteilten jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus. Und man darf "Le Martyre de Saint Sébastien", seinen Motiven nach, als ein Werk des kulturellen Rassismus verstehen, auch wenn man es den friedlichen, geheimnisvoll schimmernden Klängen nicht anhört.
Das Stück ist eine Art "Anti-Parsifal", gegen Richard Wagner gerichtet, diesen aber voraussetzend. Debussy hatte als junger Mann Wagner heiß verehrt und sich dann, je mehr er ins chauvinistische Lager abdriftete, seine Liebe zu Wagner als Hass vom Leibe schreiben wollen. "La race latine contre la race germanique" war damals eine Kampf- Formel französischer Deutschland-Polemik. Debussy und D'Annunzio suchten in Gestalt des römischen Prätorianer-Offiziers Sebastian aus dem dritten Jahrhundert dem germanischen Erlöser Wagners einen Märtyrer lateinischer Rasse gegenüberzustellen. Man hat diese wenig appetitlichen Hintergründe auch jetzt nicht öffentlich zur Sprache gebracht, als die Sing-Akademie zu Berlin, der Staats- und Domchor sowie das Symphonieorchester der Universität der Künste das Stück unter der Leitung von Kai-Uwe Jirka zu einer überwältigenden Aufführung brachten - in einer sinnvoll gekürzten Fassung des Sprechtextes, mit Hanna Schygulla in der Rolle des heiligen Sebastian. Der Aufführungsort war freilich so klug und symbolreich gewählt, dass die ganze Geschichte wieder in die
Kunst hineinspielte: Berlins Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Egon Eiermanns Neubau
neben der Kriegsruine, ein Werk deutsch-französischen Versöhnungswillens mit Glasfenstern von Gabriel Loire aus Chartres. Neben der Ruine der alten Kirche, die jenes Wilhelminische Reich feierte, das sich auf die Demütigung Frankreichs gegründet hatte, wurde nun also ein Werk aufgeführt, das sich aus dem Hass auf ebenjenes Reich speiste. Allein das darf schon als einer der mutigsten Beiträge zum Debussy-Jahr gelten.
Das Reizpotential musikalisch-theologischer Geschichtspolitik liegt dabei so hoch, als würde man das "Triumphlied", das Johannes Brahms nach Worten der heiligen Schrift auf den Sieg der deutschen Waffen bei Sedan komponiert hat, in der Basilique du Sacré-Coeur auf dem Montmartre oder im Pariser Invalidendom aufführen. Nicht durch Dämonisierung, sondern durch Faszination suchte man in Berlin Herzen und Sinne zu bewegen. Der Dichter Christian Filips, zugleich Dramaturg der Sing-Akademie, hat durch seine Regie den Raum der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zum Leuchten gebracht. Zu der betörenden, bis ins Verborgenste ausgehörten Musik fiel das Licht (Ingo Bracke) von außen durch die Buntglasfenster, wanderte von Wand zu Wand und warf manchmal die Silhouetten langsam schreitender Sänger ins Innere. Man saß wie in einem sich drehenden Saphir, versunken in azurnem Klang. Ein totales Theater des Raums und der Musik, ein Mysterienspiel von größtem Ernst.
Hanna Schygullas Sprechstimme wehte, mikrofonverstärkt und ebenfalls kreisend, mit mürb-müder Sehnsucht hinein - einladend stimmungsvoll anfangs, dann jedoch mit raunender Brunst, die den Schmerz des Martyriums beim Eindringen der Pfeile in die Lust einer Penetration verkehrte. Da ist der Ernst verspielt worden. Dass Schygulla nach dem Schlussakkord noch eine Rede hielt, in der es um deutsche Wunden und Schlussstrich- Sehnsucht, um Rainer Werner Fassbinder und das Selbstmitleid einer alternden Diva ging, die aus der Kirche ausgetreten sei und nun doch in einer Kirche rede - das alles nahm das Publikum im überfüllten Raum höflich zur Kenntnis.
Gefeiert aber wurden, mit Recht, Kai-Uwe Jirka, die Chöre und das Orchester, die mit aller Feinheit Debussys Verführungszauber freigesetzt und damit die Musik ästhetisch in die Offensive gegen ihre eigenen rassistischen Motive geführt hatten.
F.A.Z., 7. November 2012, Jan Brachmann
PFEILGENAU
Nur als konzertante Bühnenmusik war „Le Martyre de Saint Sébastien“ von Claude Debussy bisher zu retten. Zu monströs war das vierstündige Libretto Gabriele d’Annunzios, zu schwülstig auch in der latenten Erotisierung der Leiden des Heiligen. Die Uraufführung 1911 geriet zum Skandal, weil die Tänzerin Ida Rubinstein seinen Part „mit nackten Beinen“ übernahm.
Wenn ihn die große Hanna Schygulla ganz als Sprechrolle ausgestaltet, wenn sie im magisch beleuchteten Dunkel der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche – fast immer den Blicken des Zuschauers entzogen – Worte der leidenden Verzückung raunt, flüstert, stammelt, dann ist auch hier ein erotisches Moment durchaus wahrnehmbar.
Doch die Fassung der Sing-Akademie zu Berlin, verschlankt und szenisch eingerichtet von Christian Filips, katapultiert das Geschehen ins Heute, indem es um Wunden geht, die erst heilen können, wenn man sie ansieht. In ihrem großartigen Schlusswort gedenkt Schygulla der Gewalt, die Menschen einander antun um ihrer Überzeugung willen, bis hin zum jüngsten Mord auf dem Alexanderplatz: „Gott ist im Detail.“
Eine Wunde der Stadt ist auch die Gedächtniskirche, deren Glaswände, zusammengesetzt aus Splittern aus Chartres, hier faszinierende Lichtspiele abgeben. Im einfallsreich genutzten Raum hüllen das vorm Altar postierte Sinfonieorchester der Hochschule der Künste, vielfach geteilte Chöre der Sing-Akademie sowie des Staats- und Domchores von den Emporen den Zuhörer in seidige, leuchtende, dunkel aufbrandende und sich in sanften Fluten glättende Klänge. Überirdisch schön schweben die Soprane von Vanessa Barkowski, Olivia Vermeulen und Csilla Csovari darüber.
Dies ist vielleicht Debussys sinnlichste, delikateste Partitur. Der souveräne musikalische Leiter Kai-Uwe Jirka scheut sich nicht, ihr Wunden zu schlagen: Fünf „Intermedien“ der Kompositionsstudenten Benedikt Bindewald, Miika Hyytiäinen, Aziz Lewandowski, Alejandro Moreno und Daniel Puig sind ihr wie Salz eingestreut, widersprechen ihrer Süße mit zumeist dissonant aufgetürmten Orgelklängen (Age-Freerk Bokma), brechen die Ekstase mit nachdenklichem Chorgesang. Ein hochherziger, äußerst kreativer Rettungsakt, der das enigmatische Werk dem Leben öffnet.
Der Tagesspiegel, 5. November 2012, Isabel Herzfeld
GRANDIOSES ROMANTISCHES WERK
Mendelssohn-Festtage: Berliner Ensembles musizieren Mendelssohns Fassung der Matthäuspassion
14.9.2012 Gewandhaus zu Leipzig
Ein "historisches Konzert" hielt das Programm der diesjährigen Mendelssohn-Festtage am Freitagabend im Gewandhaus bereit. Und historischer geht es kaum - sogar in mehrerlei Hinsicht. Eines jener Ereignisse steht im Mittelpunkt, die tatsächlich das Bild der Musikgeschichte veränderten. Dass Felix Mendelssohn Bartholdy der Wiederentdecker von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion ist, wissen viele. Wie dieses Werk damals in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geklungen haben mag, leider nach wie vor sehr wenige. Seit vor gut zwölf Jahren, am 11. April 2000, Howard Arman in einem spektakulären Konzert das Werk zurück ins Gewandhaus brachte, gab es den einen oder anderen Versuch, die Matthäus-Passion in der Mendelssohn-Fassung in den Konzertsaal zu bringen.
Nahezu jeder machte deutlich: Dieses Werk hat es verdient, in seiner Eigenständigkeit neben dem inzwischen nachhaltig ins Repertoire und ins Bewusstsein der Menschheit gedrungenen Bachschen Original ein rezeptives Eigenleben zu entfalten. Denn es ist in Form, Dramaturgie, Anspruch und Klangbild ein entscheidendes Dokument seiner Zeit, ja ein grandioses romantisches Musikwerk.
Diese Tatsache ist weniger absurd als sie in Worte gefasst klingt, wohnt man einer Aufführung bei wie jener am Freitagabend im Rahmen der Mendelssohn-Festtage im Gewandhaus. Hier trafen Zeiten, Welten und geschichtsträchtige Ereignisse aufeinander. Unter jenen Ensembles, die das Werk - zwar wieder in der Leipziger Fassung von 1841 - in Leipzig musizieren, ist jene Sing-Akademie zu Berlin, mit der Mendelssohn 1829 erstmals eine Wiederbegegnung mit dem Ausnahmewerk ermöglichte.
In einem gigantischen Gemeinschaftsprojekt mit dem Staats- und Domchor Berlin, der Symphonischen Compagney Berlin und einem herausragenden Solistenensemble haben sich die Sänger unter der Leitung von Kai-Uwe Jirka zusammengetan, sich nach der Berliner im Frühjahr nun auch die Leipziger Fassung zu erschließen.
Und das Ergebnis überzeugt rundum. Gerade in Zeiten, in denen die historische Aufführungspraxis ein sehr konkretes, völlig gegensätzliches Bachbild geschaffen hat, ist dieser romantische Bach sowohl aus musikhistoriographischer Perspektive als auch als rein klangsinnliches Erlebnis immer wieder eine Entdeckung.
Es mag Geschmackssache sein, aber wirkungsvoll ist dieser satte farbenreiche Klang auf jeden Fall. Und Jirka nutzt die Möglichkeiten des Saales nicht nur, was die Doppelchörigkeit angeht. Sänger wie Matthias Goerne als Christus, Florian Boesch als Arien-Bass beziehungsweise Pilatus, aber ganz besonders Benjamin Bruns als Evangelist erscheinen ideal, wenn man 2012 erlebt, wie wohl 1841 Mendelssohns Bach geklungen hat.
Es ist schwer, sich dem Reiz musikalischer Geschichtskonstruktion zu entziehen, vor allem, wenn er so Genuss bringend ist. Dorothee Mields und Vanessa Barkowski erscheinen ebenso als Ideal-besetzungen ihrer Partien. Ein weiteres Plus sind die fantastischen Sänger, mit denen Jirka die Chorsoli besetzen kann.
Fatal ist lediglich der Besuch des Konzerts in einer Stadt, die von sich behauptet, eine Musikstadt zu sein und ausgerechnet Bach und Mendelssohn zu Säulen dieser Tradition erhoben hat. So richtig gegeneinander aufwiegen möchte man die Anzahl der Menschen auf dem Podium und im Saal jedenfalls nicht.
Leipziger Volkszeitung, 17. September 2012, Tatjana Böhme-Mehner
BERICHT ÜBER DIE SING-AKADEMIE
500 KISTEN VOLLER NOTEN-SCHÄTZE
In der Villa Grisebach wird derzeit ein Teil des Erbes von Carl Friedrich Zelter gezeigt. Der Zeitgenosse Goethes sammelte alles, was ihm unter die Finger kam. Darunter befinden sich auch gerettete Autographen aus dem Bach-Archiv der Berliner Sing-Akademie.
Zwar ist Goethes Duzfreund Carl Friedrich Zelter (1758 – 1832) auch durch sein jahrzehntelanges Wirken für die Sing-Akademie zu Berlin noch einigen ein Begriff, doch in erster Linie gilt er als Rädelsführer der musikalischen Reaktion im frühen 19. Jahrhundert. Zelter verstand weder Mozart noch Beethoven noch Weber, die acht Faust-Szenen des jungen Berlioz, immerhin Vorstudien der bedeutendsten Oper des französischen Repertoires, kamen ihm vor wie „Husten, Schnauben, Krächzen und Ausspeien“. Damit lag er voll auf olympischer Linie: auch Goethe wollte von den größten deutschen Dichtern seiner Zeit – Hölderlin, Kleist, Büchner – nichts wissen. Der Geheime Rat aus Weimar und der Akademische Musikdirektor aus Berlin – zwei Brüder im Geiste, die unter ihren Künstlerkollegen viel Unheil anrichteten.
So weit, so schlimm. Doch gibt eine kleine Ausstellung in der Villa Grisebach derzeit Gelegenheit, die Rolle Zelters in der Kulturgeschichte noch einmal zu überdenken. Gezeigt werden "Bach-Schätze der Sing-Akademie zu Berlin", allesamt Bestandteile jenes vor zehn Jahren aus Kiew zurückgekehrten Archivs, das knapp zehntausend Werke von tausend Komponisten umfasst, insgesamt 264.000 Seiten Autographe, Abschriften und seltene Notendrucke. Ohne Zelters konservative Gesinnung und ohne seine Sammelwut würde es diesen Schatz überhaupt nicht geben.
ZELTER WAR EIN SAMMLER
Zelter sammelte alles, was ihm unter die Finger kam, auch Stücke von Komponisten, die er nicht mochte und die er niemals aufzuführen gedachte. Erstaunlich vor allem die große Zahl der vom ‚Singemeister' aufgehäuften Orchesterwerke. Den Schwerpunkt des Archivs bilden freilich die so genannten Bachiana, also Musikwerke von drei Generationen Bach. Die Ausstellung in der Fasanenstraße zeigt davon einige restaurierte Exemplare. Sie zeigt aber auch den Weg der Restauration, von den säurehaltigen Pappkartons Modell ‚Kiew' über die ersten Maßnahmen der Notfallbergung bis zur Entwicklung wissenschaftlich neuer Standardverfahren. Finanziert wurde das Projekt vom KUR-Programm, das im Auftrag der Kulturstiftung des Bundes und der Länder fünf Jahre lang die Konservierung und Restaurierung mobilen Kulturguts betrieb. Friederike Zobel betreute dieses Projekt und konzipierte jetzt auch die Ausstellung bei Grisebach. „Es war uns ein Anliegen“, sagt sie, „diese immens wichtige Arbeit einmal der Öffentlichkeit zu präsentieren.“
Die Besonderheit dieser Konservierung besteht auch in ihrem praktischen Wert. „Es ging vor allem um den Erhalt dieser Werke“, berichtet Frau Zobel. „Wir wollten sie jedoch nicht einfach ästhetisch aufbereiten fürs Museum, sondern der Forschung und den Musikern zugänglich machen.“ So wurden aus Heiligtümern, die teils aus Respekt, teils aus Vorsicht niemand zu berühren wagte, Artefakte einer lebendigen Musikkultur. Tatsächlich sind inzwischen einige dieser Bachiana von der Sing-Akademie aufgeführt worden. Die mit der Rückkehr des Archivs verbundenen übersteigerten Erwartungen konnten sie allerdings nicht erfüllen, Carl Philipp Emanuel Bachs Passionen sind alles andere als Geniestreiche. Zelter vergötterte zwar den zweitältesten Bachsohn, fand dessen geistliche Schöpfungen aber fade – ein Urteil, das sich zu bestätigen scheint. Freilich ermöglicht erst die Pflege und Aufführung der Bachiana solche Urteile. Die notwendige Konservierung einer derart umfangreichen Materialsammlung lässt sich nämlich nicht mit dem Sprüchlein negieren, Tradition sei die Bewahrung des Feuers und nicht die Anbetung der Asche. Viele der unbekannten Archiv-Werke sind zweifellos Massenware, Asche, von der Zeit verweht – und verraten gerade deswegen mehr über diese Epoche zwischen Barock und Klassik als die singulären Meisterwerke. Ein Volk, das seine geistige Substanz nicht auch in der ganzen historischen Breite zu pflegen bereit ist, hört auf, eine Kulturnation zu sein. Darüber gibt es in Deutschland auch keinen Dissenz. Die Frage ist nur: wer pflegt, wer bezahlt, wer engagiert sich für unsere Tradition? Womit wir wieder bei Herrn Zelter wären.
PRÄGTE DIE SING-AKADEMIE
Carl Friedrich Zelter, von seiner Ausbildung her Maurer und Baumeister (woran heute nur noch das Nicolaihaus in der Brüderstr. 13 erinnert), leitete über Jahrzehnte die Sing-Akademie, eines der ersten rein-bürgerlichen und überkonfessionellen Kulturinstitute in Deutschland. Er war die treibende Kraft hinter der staatlichen Musikausbildung in Preußen, sorgte für die Gründung eines Instituts für Kirchenmusik und für den Bau des Sing-Akademie-Gebäudes am Festungsgraben. In diesem Gebäude erklangen ab 1829 erstmals wieder Johann Sebastian Bachs seit Jahrzehnten vergessene Matthäus-Passion, Johannes-Passion und H-moll-Messe. Obwohl auf mitunter schon skurrile Art obrigkeitshörig, wurde Zelter zu einer zentralen Gestalt in der Reformzeit Steins und Hardenbergs. Das Aufblühen des Berliner Musiklebens nach 1800 ist im Wesentlichen ihm zu verdanken, denn Zelter bemühte sich auf vielen Feldern um eine Hebung des Niveaus. Zur Erbauung sollte die Kunst dienen, eine Vokabel, die ihre Herkunft aus der Baukunst kaum verleugnet. Erbauung aber hieß nicht nur Vergnügen, sondern zunächst Bildung, Ausbildung einer Persönlichkeit, die ihre Interessen in den Dienst des Allgemeinen stellt.
Staatsbürgerliches, gesellschaftspolitisches Engagement nennt denn auch prompt Bernd Schultz, Geschäftsführer der Grisebach-Villa, als sein Motiv, die Bach-Schätze in der Fasanenstraße zu zeigen. „Was Zelter geschaffen hat, war mustergültig nicht nur für seine Zeit. Deswegen haben wir auch das im Schott-Verlag erschienen Buch über den ‚Singemeister' finanziert, wie wir überhaupt gerne zahlreiche kulturelle Aktivitäten in der Stadt unterstützen.“ Von der Ausstellung erhofft er sich eine Art Initialzündung. Tatsächlich hat Berlin einen gewaltigen Nachholbedarf, was die Erforschung, Pflege und Präsentation seiner Musikgeschichte betrifft. So hütet die Akademie der Künste die Nachlässe großer Berliner Komponisten wie Max Butting oder Heinz Tiessen, aber die hütet sie so gut, dass diese Zwei außerhalb der Archive kaum noch bekannt sind.
Zelters Erbe ist wichtig und zukunftsweisend, weit über seine Sing-Akademie hinaus. Dass dieses Erbe mehr mit Konservieren als mit Revolutionieren zu tun hat, ist eine Selbstverständlichkeit. Beethoven und Berlioz hatten auch ohne Zelter Erfolg. Die Familie Bach hingegen verdankt ihm unendlich viel.
Berliner Morgenpost, 5. Januar 2012, Volker Tarnow