DER KOPENHAGEN-COUP
Die Sing-Akademie feiert die vergessenen dänischen Komponisten Niels Wilhelm Gade und Rued Langgaard. Ein Konzert jenseits des Gewohnten.
Der Tagesspiegel, 13. März 2017, Frederik Hanssen
VON KREUZFAHRERN UND HIMMLISCHEN SPHÄREN
Der Dichter Hendrik Jackson über einen Konzertbesuch
bei der Sing-Akademie zu Berlin am 11. März 2017
Ists eine Kröse, Fraise, ein Duttenkragen, Mühlstein? Was trägt um den Hals das comicartige, fast quadratische Tierchen als Krause? Und was ist das für ein Tier: ein Braun-, ein Wasch-, ein grimmiger Ameisenbär, ein maulverkümmertes Feuchtnasenkrokodil? In seinen putzig klobig endenden Tatzen hält er ein Kreuz, das das Quadratische des Ganzen recht eckig und fast mathematisch potenziert (Skulptur von Stefan Rinck). Der Bär trägt schwer an seinem Kreuz, er kann es nicht einmal ein Zentimeterchen über den Boden hieven. Und miniaturhaft ist er - er, der dem Orchester, dem Chor und dem Abend via Programmheft und Ankündigung voransteht.
Will man uns also mitteilen, der Kreuzritter des zur Aufführung kommenden Oratoriums "Die Kreuzfahrer" von Niels Wilhelm Gade sei inzwischen zum possierlichen Tierchen geworden, das zu schwer und grimmig an seiner Last trägt, als dass man ihn noch ernst nehmen könne? Schrumpft in der Rückschau der Kreuzritter des ehemals so bejubelten Jubelwerks auf Teddytheologengröße?
Gades Apologie des Missionierens war immerhin eines der meistgespielten Oratorien weltweit zwischen 1866 und 1914. Führt man es in diesen Zeiten, in denen Erdogan von einem großtürkischen Reich träumt, der IS wütet und die AfD zur Rettung des christlichen Abendlandes aufruft, unbefangen auf, geht man, so steht zu vermuten, von mündigen Hörern aus, die in kritischer Distanz zum Text stehen. Es könnte doch nur ein Schelm von Bushs Gnaden sein, der denkt, man müsse jetzt einen weiteren Kreuzzug initiieren, um die barbarischen Diktaturen in die kreuzfidele demokratische Mündigkeit zu überführen.
Andererseits: Zeigen, was gewesen ist. Gilt dieser Anspruch nicht nur für die Sing-Akademie, sondern war es auch Anliegen Gades? Wo endet Dokumentation und wo gebe ich der Darstellung eines, sagen wir, eigentümlichen, längst unerhörten Denkens Raum und wieder Ohr? Vielleicht war ja die Auffassung des Komponisten, man müsse so weit in die Erlebniswelt der Religion und ihrer extremen Ausläufer hineinkriechen, dass man den innersten, um seine Sprache aufzugreifen: glühendsten Kern freilegen könne. Mag sein, nur irgendwann schlägt jede Mimesis in Affirmation um. Und wenn Christian Filips in seinem erhellenden Einführungstext im Programmheft schreibt, dass die konzeptionelle Einbettung des Kreuzfahrer-Oratoriums in eine Trilogie der Weltreligionen jenes des Propagandavorwurfs enthebt, so nimmt er uns, folgen wir seiner Auffassung, das große Vergnügen, uns einer frevelhaften inkorrekten Lust hinzugeben. Wir werden hören:
Denn es ist durch und durch aufregend, was wir im Konzertsaal der Universität der Künste zu Gehör bekommen, aufgeführt vom Hauptchor und Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin, den Männern des Staats- und Domchores Berlin und der Kammersymphonie Berlin, allesamt unter Leitung von Kai-Uwe Jirka, mit den Solisten Nikolay Borchev, Bettina Ranch, Patrick Vogel und Antje Rux.
Aufregend ist Gade, denn die Musik steht hinter der seiner Zeitgenossen nicht zurück. Sie kann für sich einnehmen, umschmeichelt, putscht wie eine Droge, nimmt sich wieder zurück, nur um zu ungehemmtem Jubel aufzubrechen. Die Macht der prächtig donnernden Chore tut ein Übriges. Es ist nicht besonders schwer, sich vorzustellen, wie eine politisch bestenfalls naive Zeit durch diesen Bombast in ästhetisch kollektiver Katharsis sich läuterte. Heilige Gefühle, Schauder, Entzücken - sind die dazu passenden Adjektive. Man muss dem nur ein bißchen nachgeben - und wie ungefährlich ist so ein Nachgeben, stehen wir doch längst über solchen missionarischen Wünschen (stehen wir?) ! - schon gleitet das Herz des Zuhörers "fort durch glühende Lüfte" in "schwindelndem Himmelsteig".
Dass einen edlen Kreuzritter (Patrick Vogel) profane Gelüste in Form erotischer weiblicher Verführung (Bettina Ranch gibt dieser allzu bekannten Männerphantasie sattes Volumen) am reinen idealistischen Streben hindern wollen - macht dies Streben nur umso edler, und ein Eremit (Nikolay Borchev) gibt ihm support. In so einem Konzertsaal, wo Glanz der Lichter, das Klingen der teuren Instrumente, das Prangen schöner Kleidung verlocken zu ästhetischem Genuss, läßt dieser sich nur noch krönen, wenn er selbst über sich hinaussteigt zu hehrem Idealismus!
Pardon, ich habe mich mitreißen lassen. Fragen wir ernster: Welche Erfahrungen muss man machen, um nicht mehr seinen archaischen Gefühlen der Sehnsucht nach Einheit, missionarischem Aufbruch, Sich-im-Recht-Wissen und Erlösungsdrang nachzugeben? Nicht mehr das Weibliche nur als Bedrohung, das Fremdländische als barbarisch und "ungläubig" anzusehen? Und ließen sich diese Erfahrungen vermitteln? Könnten wir davon IS-Kämpfern erzählen oder den Jubelpersern, heute: Jubeltürken, die Erdogan in Deutschland huldigen, als hätten sie die letzten dreissig Jahre Demokratie verschlafen? Ließe sich solche Erfahrung ihrem Fern-Regenten vermitteln, der durch seine Wortwahl zeigt, dass er weder weiß, was Faschismus bedeutet, noch vermutlich eine Vorstellung von Historie jenseits ihrer radikalen Nutzbarmachung für die eigenen Zwecke hat? Dies Konzert kam wahrlich zur rechten Zeit.
Es ist auch nicht schwer, sich zu der Musik - wir kennen solche kinematographischen Kontrastverfahren - filmische Szenen vorzustellen mit abgeschlagen Köpfen, kreuzfahrenden oder dschihadbeseelten Kriegern, die mit Lepra und Aussatz übersät durch das "Sandmeer, gelb wie Flammen", kriechen, verendend. Dieser Abend ist eben so spannend, weil er ambivalent ist und einen über Zeitgenossenschaft nachdenken lässt. Gestern die Kreuzfahrer, heute der IS oder woanders, friedlicher und demokratischer gestimmt, die "Schulzwelle": Moden und Überzeugungen erfassen die Menschen, füllen sie aus, tragen sie eine Weile, eine Welle lang mit - und der Mensch, der so individuell zu erleben meint, ist darin nur ein Partikelchen, eine im Gesamtganzen der Historie fortgespülte Monade. Und jede einzelne, sich wichtig nehmende Monade spiegelt nur klein das Große des Zusammenspiels aller Monaden.
Doch die eigentliche Sensation und Kulmination des Abends ist die Entdeckung des Komponisten Rued Immanuel Langgard. Nicht nur erweist er sich als hervorragendes musikalisches Bindeglied zwischen Gade und dem 20. Jahrhundert, nein, die Kühnheit und Geschicktheit und Unkonventionalität, mit der Langgaard bereits zu Beginn des 20.Jahrhunderts ausprobiert und komponiert ist atemberaubend. Anders als bei manchen Vertretern Neuer Musik zerfällt seine Musik dennoch nicht in ästhetische Einzelteile. Die gedanklichen Ideen, die seinen Konzepten zugrunde liegen, tragen die Musik und lassen auch die Wechsel der Einfälle und Verfahrensweisen eigenartig kohärent erscheinen.
Schon das RES ABSÙRDA, das beliebig oft wiederholt werden darf (und ganz ehrlich: man hätte es ruhig noch einige Male mehr wiederholen dürfen!) ist von außerordentlicher Gewitztheit, seine Sphärenmusik allerdings geht noch darüber hinaus und ist ein Bravourstück der unkonventionellen musikalischen Umsetzung eines "antiprinzipiellen" Komponierens, wie es Filips nennt.
Wenn diese Sphärenklänge zu ätherisch angehauchtem Saallicht immer wieder die Kreuzfahrer auf ihrem Weg zum Endziel ("Hosianna! Hosianna!") unterbrechen, sind das phantastische Momente, in denen nicht nur die Absurdität eines irdischen Abrackerns für ein Himmelsreich lebhaft vor Augen steht, sondern der Hörer auch einen Moment dieser irdischen Zusammenhänge sich enthoben, tatsächlich von oben herauszuschauen meint - und das Ganze noch mit einem feinen ironischen Zwinkern. Grandios!
Hendrik Jackson, 13. März 2017