EIN DEUTSCH-JÜDISCHES LIEDERBUCH
Präsentation im Bode-Museum: Lieder kehren zurück
Wiederentdeckung: ein jüdisch-deutsches Liederbuch von 1912, gefördert von James Simon.
Eine musikalische Soiree, bei der das Volkslied „Ich möchte sein ein Vögelein", das Kunstlied „Die Loreley" nach einem Text von Heinrich Heine und das jüdische Traditional „Dos Kelbl" vorgetragen werden, mag zusammengewürfelt erscheinen. Aber am Mittwochabend, als diese Stücke vom Mädchenchor der Berliner Sing-Akademie unter der Leitung von Kelley Sundin und Eva Spaeth in der Basilika des Bode-Museums gesungen wurden, war es ein absolut schlüssiger, vielleicht historischer Moment. Weil es sich gewissermaßen um eine Heimkehr handelte.
Denn alle Stücke stammen aus einem Liederbuch, das 49 deutschsprachige und 100 hebräische Titel enthält und 1912 dank der Unterstützung des Mäzens James Simon in Berlin und Jerusalem herauskam. Es war das erste seiner Art, konzipiert als Schulbuch, und erreichte bis 1922 in acht Auflagen mit 20 000 bis 50 000 Exemplaren große Verbreitung. Mit ihrer gleichberechtigten Verwendung von hebräischer und deutscher Musik stand die Sammlung für eine Kultur, die 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete.
(...)
Der Tagesspiegel - 21.09.2022 - von Christian Schröder
GRAVITATION
(...) Die Konzertperformance, die die jungen Frauen vom Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin zusammen mit den beiden Tänzern/Breakdancern Wilfried Ebongue und Marcio de Barros (alias Bboy Wilfried und Bboy Marcio) hinlegen, ist ein schlicht wunderschön gelungenes Gesamtkunstwerk. „Gravitation" haben sie es genannt. Das „Stabat Mater" von Pergolesi singen die Mädchen unter der Leitung von Friederike Stahmer, und die beiden Männer steuern tolle Moves und nicht zuletzt die Möglichkeit von allerlei schönen Hebefiguren bei, denn dieser Chor ist permanent in Bewegung. Die Choreografin Louise Wagner hat Pergolesis Frauenstück in den Raum gebracht. Der gesamte Bühnenraum des Radialsystems wird gebraucht für diese Performance, auch die Wendeltreppe im Hintergrund wird mit bespielt. An einer Seite hat das Kammerensemble capella vitalis Platz gefunden, das für den Instrumentalpart sorgt, und Dirigentin Friederike Stahmer hat sich platzsparend und unprätentiös in eine Ecke gestellt.
Pergolesis ursprünglich für Sopran und Alt in solistischer Besetzung geschriebenes Werk wird hier in überwiegender Mehrheit vom Chor ausgeführt. Doch einige Teile übernehmen nicht eigens dazu engagierte Solistinnen, sondern im Wechsel einzelne Chormitglieder. Und dass diese noch so jungen Frauen, größtenteils Teenager, bereits über Stimmen verfügen, die solistisch tragfähig sind, ist wirklich allerhand. Sehr berührend und auch immer wieder überraschend ist es, wenn aus dem klaren, sehr homogenen Chorklang immer wieder neue Stimmen heraustreten, die auf einmal in ihrer Individualität - und auch in ihrem unterschiedlichen Entwicklungsstand - hörbar werden. Louise Wagner hat dazu schöne, schlichte Bewegungsbilder gefunden, spielt mit den Gegensätzen Gruppe-Individuum, Distanz-Nähe, Bewegung-Ruhe. Die seitlich ausladenden schwarzen Kleider, die die Mädchen tragen (Kostümbildnerin: Marianne Akay), ermöglichen es ihnen ganz spielerisch, den gesamten Bühnenraum zu füllen. Und der nüchterne Saal des Radialsystems ist während dieser einen knappen Stunde ein kleines bisschen wie ein verzauberter Ort.
Milena Zielke, nmz 7/2018, 67. Jahrgang