BLACK LIVES BEETHOVEN
Der Klassiker und der Außenseiter
Der Tagesspiegel, 11.11.2023, Christiane Peitz
Er war ein brillanter Minimal-Komponist, Sänger, Pianist und Performer, er litt immer wieder unter Paranoia, lebte zeitweise obdachlos im Tompkins Square Park in New York, starb vergessen und verarmt – und wird seit 2017 wiederentdeckt: der amerikanische Komponist Julius Eastman (1940 – 1990). Einmal sagte er, er wolle das, was er ist, in vollen Zügen sein, „schwarz in vollen Zügen, homosexuell in vollen Zügen, Musiker in vollen Zügen“.
Davóne Tines kann das nur unterschreiben. „Jeder Mensch sollte von sich sagen können: Ich versuche, ganz ich selbst zu sein, ohne dass es sich dabei gleich um ein revolutionäres Statement handelt.“ Der US-amerikanische Opernbariton, der mit Neue-Musik-Größen wie Johan Adams, Peter Sellars und Pierre Boulez gearbeitet hat, ist diese Woche zu Gast in Berlin und am Samstag in einem ungewöhnlichen Konzert in der Gedächtniskirche zu erleben. Die Singakademie zu Berlin lädt zu einer Aufführung mit Teilen von Beethovens „Missa solemnis“, die 200 Jahre alt wird, und mit Werken Julius Eastmans, überwiegend A-cappella-Stücken.
Beethoven und Eastman sprengen beide unser Aufnahmevermögen. Sie fordern dazu auf, kühn zu sein.
Davóne Tines, US-Opernsänger und Black-Lives-Matter-Aktivist
Zu Beginn wird Tines eins der bekanntesten Stücke von Eastman vortragen, das „Prelude to the Holy Presence of Joan d‘Arc“, eine stimmgewaltige Anrufung der Heiligen. Das mit wenigen Intervallen und Worten auskommende, gegen Ende in Sekundschritten pendelnde „Prelude“ ist Gospel, Gebet, Aufschrei und Beschwörung zugleich.
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Davóne Tines nennt Eastmans Werke „Einladungen an Menschen, sie selbst zu sein“, sagt. Jede gute Musik hätte das Potenzial dazu, auch eine Mozart-Serenade. Eastmans Musik lade ganz besonders dazu sein, stimuliere die verborgenen Seiten der eigenen Identität. In seiner Lecture am Sonntagabend im UdK-Konzertsaal wird Tines mehr über Eastman erzählen, und über sein eigene, von Eastman inspirierte Art, Recitals mit Performance und Politik zu versetzen.
Gewaltige Tutti und Tines’ Soli
Die Idee, Beethoven und Eastman miteinander zu kombinieren, stammt von Christian Filips, der das Programm für das große Ensemble mit beiden Berliner Singakademien, Mitgliedern des Domchors und der Kammersymphonie unter Leitung von Kai-Uwe Jirka konzipierte. Tines wird die gewaltigen Tutti zusätzlich mit zwei meditativen, Gospel-ähnlichen Sologesängen von Eastman konterkarieren. „Beethoven und Eastman sprechen beide, wenn nicht über Religion, dann über eine höhere Macht. Über etwas, das außerhalb von uns existiert.“
Die Zumutungen der „Missa solemnis“, die riesigen Ausmaße der Messe, die extremen, unangenehmen Stimmlagen und das schier unaufhörliche Orchester-Forte künden von einem Menschen, der mit seinem Glauben ringt, der zweifelt, nicht weiter weiß. Tines nennt als Beispiel den Beginn des „Agnus Dei“ mit einem langen Bariton-Solo: eineinhalb Seiten Musik, wenige Noten, Dauer: drei Minuten. „Das ist gewaltig. Auf den ersten Blick passiert so wenig, dass es einen frustrierend, auf den zweiten eröffnet es eine kosmische Dimension“. Das haben der berühmte Beethoven und der lange vergessene Eastman mit seinem bei aller Intensität ebenfalls mit Tönen geizenden „Prelude…“ gemeinsam: „Sie sprengen unser Aufnahmevermögen. Beide fordern dazu auf, kühn zu sein. Sie brauchen einander.“
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EINDRINGLING IN DER HEILEN WEISSEN MUSIKWELT?
Die Sing-Akademie zu Berlin konfrontiert den Revolutionär Beethoven mit dem afroamerikanischen Minimalisten Julius Eastman
nd - Journalismus von Links, 16.11.2023, Florian Neuner
Auch nach 200 Jahren ist Beethovens »verfremdetes Hauptwerk« (Adorno) noch immer eine Herausforderung für seine Interpreten. Zwar steht die Missa solemnis häufig auf den Konzertprogrammen, aber die den liturgischen Rahmen aufbrechende Messkomposition erreichte nie die Popularität etwa der 9. Symphonie. Der späte Beethoven war ein radikaler Neuerer, der die Musiker an Grenzen führt.
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Beethoven, der sich mit der Messkomposition selbst beauftragt hatte, wandte sich auf der Suche nach Subskribenten auch an Carl Friedrich Zelter, den Direktor der Sing-Akademie zu Berlin, dem er den seltsamen Vorschlag machte: »Es dörfte wenig fehlen, daß es nicht beynahe durch die Singstimmen allein aufgeführt werden könnte.« Eine A-capella-Version der Missa scheint kaum vorstellbar, denn das Orchester spielt eine höchst eigenständige Rolle. Kai-Uwe Jirka führte letzten Samstag Teile der Messe mit der Sing-Akademie auf; verstärkt um die Berliner Singakademie, die Männer des Staats- und Domchors Berlin und die Kammersymphonie Berlin. Er könnte sich durch den Brief an Zelter ermutigt gefühlt haben, denn der gut disponierte Chor dominierte eindeutig das Klangbild seines Breitwand-Beethovens.
Die Missa solemnis erklingt derzeit an vielen Orten. Die Sing-Akademie, um deren Programme sich der Dramaturg Christian Filips kümmert, wäre aber nicht die Sing-Akademie, wenn sie in der Berliner Gedächtniskirche einfach eine weitere Aufführung angeboten hätte. Aus Anlass des 200-Jahr-Jubiläums der Missa solemnis hatte man nicht weniger im Sinn, als mit den Mitteln der Montage »A Mass for Our Time« zu kreieren. So waren aus Beethovens Messe nur Kyrie, Credo und Agnus Dei zu hören – gewissermaßen mit der Lizenz Beethovens, denn diese drei Teile wurden 1824, nach der Uraufführung der Missa in St. Petersburg, in Wien erstmals gemeinsam mit der 9. Symphonie gebracht. Flankiert wurden die Teile in Berlin von Musik des US-amerikanischen Komponisten Julius Eastman (1940–1990) – drei Stücken für Stimme solo und einem für Streichorchester. Musikalisch hätte der Kontrast kaum größer sein können: zwischen dem großen Apparat und der Solostimme, auch zwischen der polyphonen Partitur Beethovens und Eastmans ganz eigentümlichen litaneiartigen Wiederholungsschleifen.
Dem späten Beethoven mit Montagetechnik zu Leibe zu rücken, ist kein neuer Ansatz. Michael Gielen pflegte die 9. Symphonie mit Schönbergs »Überlebenden aus Warschau« zu brechen, die »Freude schöner Götterfunken« gewissermaßen in die Schranken zu verweisen. Bei der Missa solemnis liegen die Dinge anders. Denn das Werk ist in sich schon gebrochen, für manche Deuter durchzogen von Glaubenszweifeln, und die »Bitte um innern und äußern Frieden« im Agnus Dei ist bestürzend aktuell. An dem eindrücklichen Berliner Konzertabend standen sich zwei Unangepasste gegenüber – ein revolutionärer Komponist, der vor 250 Jahren geboren wurde, und ein Komponist, der letztlich daran scheiterte, Kunst und Lebenspraxis – das große Versprechen der Avantgarden – in eins zu bringen. Die Musik von Julius Eastman, die in den letzten Jahren wiederentdeckt wird, markiert gewiss eine eigenständige, originelle Position innerhalb der Minimal Music.
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Davóne Tines war das Bindeglied zwischen Beethoven und Eastman – überzeugender Interpret der Solostücke Eastmans und Solo-Bassist in Beethovens Missa. In einem weißen, ärmellosen Umhang – einem Priestergewand? – schritt er singend durch den Mittelgang der Gedächtniskirche nach vorne, mit dem »Prelude to the Holy Presence of Joan d’Arc«, einer säkularen Anrufung. Sein Auszug aus dem Ensemble im Altarraum beendete denn auch den intensiven Abend – »let me rest in piece«, passend zu dem aufwühlenden Agnus Dei, das davor gespielt wurde. Als Teil des den Konventionen entsprechend in Abendgarderobe auftretenden Ensembles wirkte der Sänger als einziger »Darsteller« wie ein Fremdkörper – ein Eindringling in die heile weiße Musikwelt? Mit den anderen Solisten, Hanna Herfurtner, Olivia Vermeulen und Volker Arndt bildete Davóne Tines jedenfalls ein hervorragendes Solistenquartett. In einer Lecture am Tag nach dem Konzert beschrieb er die Qualitäten Eastmans so: Der habe Strukturen geschaffen, in denen die Interpreten sie selbst sein könnten.
WHERE THE TREES ARE
An interview with Davóne Tines
VAN Magazine, by Olivia Giovetti, November 16, 2023
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VAN: This program with the Berliner Singakademie isn’t one that you put together. But the combination of the Kyrie, Credo, and Agnus Dei from Beethoven’s “Missa Solemnis” and the selections of Julius Eastman, and how those two composers work in conversation with one another, feel like very “you” things.
TINES: We shouldn’t have to say that programming both an old German white composer and a “relatively” younger Black composer is “revolutionary,” because both of their works are incredible and both of the works bear the mark of… genius, if we want to go there. But it is, in effect. It could be seen as an effort to add to the psychological equity within culture; to put it within people’s minds who would never have put those two people on the same level. And to do so at such a scale.
That’s partly also what makes me so excited; it’s really a statement. Beethoven’s “Missa Solemnis” is a piece of such incredible scale. You could almost say, from certain perspectives, an absurd scale: the amount of musicians needed, the scale of the musical phrases… It’s huge, and it’s really juicy. The works of Julius Eastman that are solo a cappella works essentially, aside from “The Holy Presence of Joan of Arc,” counterbalance these things. It’s a daring statement. It’s a daring invitation. To suggest to people that this is what balance looks like.
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