PRESSESTIMMEN / MARKUS-PASSION VON CHRISTFRIED SCHMIDT
"Hört man Christfried Schmidts Markuspassion, die am Karfreitag in der Gethsemanekirche von der Sing-Akademie, dem Staats- und Domchor, der Kammersymphonie Berlin unter Kai-Uwe Jirka uraufgeführt wurde, so hört man trotz der 44 Jahre, die ihre Entstehung 1975 von uns trennt, ein aktuelles Werk. (...) Die Geradlinigkeit, mit der Schmidt die Gewalt des Geschehens musikalisch übersetzt, spekuliert nicht auf Publikumswirkung und kritische Intelligenz. Sie reklamiert einen Sinn für sich selbst - das gibt ihr bei aller Aggression eine Souveränität, die selten ist. Es ist ein bewegendes Bild, wie der Komponist am Ende den Beifall seines Publikums entgegennimmt und seinen grandios engagierten Interpreten dankt - und sie ihm. Man wünscht sich, dass Erfolge wie dieser weiteren Schmidt-Werken den Weg aus der Schublade bereitet, etwa der Oper „Das Herz" nach Heinrich Mann, die seit 1987 auf ihre Uraufführung wartet."
Berliner Zeitung, 25.4.2019, Peter Uehling
"Aufzuzeigen, dass Menschsein eben auch das heißen kann: Missgunst, Kaltherzigkeit und der Rausch einer kollektiven Menschenjagd - darin bestehen Realismus wie Illusionslosigkeit dieses Werkes, das zu seiner Entstehungszeit Anfang der siebziger Jahre ebenso wie heute nicht nur innerhalb der deutschen Musikszene wenig seinesgleichen finden dürfte. (...) In den kaum passionsüblichen, aber unaufhaltsamen Ovationen der Besucher für den anwesenden Komponisten, der nur wenige Straßenzüge von der Gethsemanekirche entfernt lebt, lag nach dem Ende der Aufführung nicht zuletzt ein tiefer Respekt vor dem Mut und der Standhaftigkeit, die ein solches Beharren auf dem Eigenen über alle Zeitenwechsel und gegen alle Nötigung zur Anpassung hinweg erfordert. Gleichermaßen aber galten sie den bis an ihre Grenzen gehenden, gleichsam wütend engagierten Interpreten: voran den klangmächtigen vereinten Ensembles des Staats- und Domchors und der Sing-Akademie zu Berlin mit ihrem Dirigenten Kai-Uwe Jirka, die ihr Engagement zusätzlich durch die Vorbereitung des Aufführungsmaterials und die dramaturgische Begleitung (Christian Filips) bewährten. Die von apokalyptisch dröhnenden Schlagzeugbatterien eingefasste Kammersymphonie Berlin schuf den wild wühlenden und nur selten zart aufgelichteten Klanggrund, während die Evangelisten-Erzählung vom Komponisten zwischen einem Gesangstrio (Julia Giebel, Annelie Sophie Müller und - manchmal schneidend markant - Volker Arndt), das auch die Arien bestritt, und dem jugendlichen Sprecher Jonas Rogoll aufgeteilt wurde. Die flackernden Wechselreden zwischen ihnen und den Chormassen waren ein wesentliches Element für die dramatische Verdichtung des Geschehens, dessen erschütternde Wirkung hoffentlich Nachfolgeaufführungen generiert; eine musikalische Substanz, die ihre Ausdruckskraft so lange behalten hat, wird das auch weiterhin tun."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.4.2019, Gerald Felber
"Alle Jahre wieder werden die Bach-Passionen zur Aufführung gebracht. Manche Ensembles brechen Lanzen für abseitiges Barock-Repertoire. Wirklich neue kirchenmusikalische Impulse aber gibt es selten bis nie. Um so mehr lässt nun eine mehr als 40 Jahre verspätete Uraufführung am Karfreitag in der Berliner Gethsemanekirche aufmerken. Dass hinter der Entdeckung die Sing-Akademie zu Berlin mit ihrem Leiter Kai-Uwe Jirka und dem Dramaturgen Christian Filips steht, hat indes eine gewisse Folgerichtigkeit - war es doch diese Institution, die 1829 unter Felix Mendelssohn-Bartholdy J. S. Bachs damals vergessene »Matthäus-Passion« ausgrub. Die oft vorschnell als zu schwierig abgetane Musik Christfried Schmidts hat sich einmal mehr als durchaus praxistauglich erwiesen, mehr noch: Der vertraute Stoff der Leidensgeschichte Christi, mit kompromisslos modernen Mitteln gestaltet, ist dazu geeignet, auch ein Publikum zu erreichen, das nicht nach Donaueschingen pilgert. Die enthusiastischen Ovationen unterstrichen das."
Junge Welt, 23.4.2019, Florian Neuner
ER HAT SICH MITBEDACHT
Die Humboldt-Universität feiert ihren Namensgeber
[...] Den Auftakt der Humboldt-Woche machte ein Konzert der Sing-Akademie zu Berlin und der Herren des Berliner Staats- und Domchors unter Leitung von Kai-Uwe Jirka im Berliner Dom. Felix Mendelssohns "Humboldt- Kantate" für reinen Männerchor zu einem Libretto von Ludwig Rellstab ist eine hübsche historische Trouvaille und eine Illustration des Wissenschaftsoptimismus der Goethe-Zeit. Bei der "Cantata Criolla" von Antonio Estévez aus dem Jahr 1954, die in deutscher Erstaufführung zu hören war, bestachen die Präzision des gemischten Chors und die atemraubende Klangschönheit des Tenors Andrés Moreno García. Die grell zuckenden Videosequenzen dagegen störten das Publikum, das sich auf die Musik konzentrieren wollte, und auch die zwischendurch von der Schauspielerin Margarita Breitkreiz gelesenen Texte waren überflüssig. Wenn es einen gibt, bei dem man sich pädagogische Kindereien sparen kann, dann Alexander von Humboldt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.8.2019, Nr. 201, Paul Ingendaay

WIE DIE DINGE IHRE FORM WECHSELN
Über das Konzert WIDMA - Ein polnisches Requiem
am 24. November 2019 im Konzertsaal der Universität der Künste Berlin
von Kenan Khadaj (As-Suwaida, Syrien / Berlin) - 30.11.2019
Mir hat einmal jemand erzählt, dass Dinge nicht sterben können. Sie wechseln nur ihre Form und verwandeln sich selber dabei. Ich habe lange über diesen Satz nachgedacht, während ich in dem von der Sing-Akademie und der Universität der Künste veranstalteten Konzert WIDMA saß und der Musik zuhörte. Es fand statt am Totensonntag, zur Erinnerung an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren. Die Kantate wurde in einer Zeit komponiert, als Polen auf der Landkarte nicht als Nation existierte. Dadurch wurde die Musik zum Traum von einem Land, das für seine Landsleute ein gutes wäre. Mein Land Syrien steht zwar derzeit noch auf den Landkarten, aber ich kann nicht behaupten, das es noch existiert. Darf ich träumen?
Im Jahr 1824 schrieb der polnische Dichter Adam Mickiewicz das romantische Drama „Dziady." Der polnischen Tradition gemäß steht das Wort „Dziady" für eine Feier, bei der den toten Seelen Speisen als Opfergaben dargeboten werden. Die Verstorbenen werden in ihre früheren Häuser eingeladen, um dort Honig, Brei und Eier zu essen und Wodka zu trinken. So können die Lebenden erfahren, wie es den Geliebten auf der anderen Seite des Lebens gerade ergeht. Das Stück, das mehr als einmal verboten wurde, hatte im Januar 1968 während einer Warschauer Inszenierung von Kazimierz Dejmek für politische Unruhen gesorgt und das russische Regime dazu gebracht, es zu verbieten. Auch die Toten sind nun einmal politische Wesen.
Die Lichter gingen aus. Leise trat das Orchester auf. Und während der Maestro Kai-Uwe Jirka die Bühne betrat und die Instrumente sich einstimmten, machte sich der Geisterbeschwörer Guslar daran, die Toten aufzuwecken. Ich hörte seine Stimme. Oder war ich eingeschlafen?
Ich klopfe an die Tür des Steins.
Ich bin's, mach auf.
Lass mich ein.
Ich will mich umschauen in dir,
Dich einatmen wie die Luft.
Einen Moment lang nahm ich an, ich selber sei diese Tür aus Stein. Aber als dieses Requiem laut wurde, begannen die Toten aus ihren Gräbern hervorzukommen, in denen sie geschlafen hatten. Sie ließen ihre gemachten Betten zurück, bestachen den Friedhofswächter mit einigen ihrer wohlfeilen Träume und kehrten heim in ihre alten Straßen, im Licht der Feuer, die vor den Kapellen entzündet waren. Ich sah die Toten unter uns im Publikum sitzen und einer Musik zuhören, von der sie schon immer geträumt hatten. Also verließ auch ich meinen Körper, im Takt der Musik, und folgte ihnen nach. Nicht um zu erfahren, wo genau die Trennlinien zwischen Leben und Tod verlaufen. Auch nicht, um zu erfahren, wie die Toten inzwischen ihre Zeit verbracht hatten oder ob das Grab wirklich dunkler ist als das Leben, sondern um ihnen zu erzählen, dass auch ich meinen eigenen Weg verloren hatte. Meinen Weg zwischen den Träumen, der Musik, den Kriegen und der sogenannten Realität. Ich wollte im Tod den Weg zu mir selbst zurück finden. Also folgte ich den Toten und wurde zu einem von ihnen. Ich war eine dieser fünf Seelen in der Gestalt kleiner verstorbener Kinder. Ihre Gesichter sahen aus, als hätten sie noch nie die Sünde gesehen. Als hätten ihre kleinen Münder noch nie etwas Bitteres gegessen. Mich erschrak diese Unschuld, als eine Stimme sagte:
„Seht zur Wölbung! Seht nach oben!
Ach was leuchtet da so klar?
Goldgeflügelt, lichtumwoben
Flattert eine Kinderschar.
Seht sie kreisen, seht sie wandern
Wie zwei Blätter wehen im Wind,
Wie zwei Tauben auf der Linde
Spielt ein Engel mit dem andern."
Ja, ich war einer von ihnen, und ich erinnerte mich an mich selbst, als Kind. Alle Dingen lagen mir jetzt klar vor Augen. Starrt ein lebendiges Wesen ein lebloses Objekt an, dann muss es erschrecken. Und in ihm trauert ein kleines Etwas. Es ist das Kind auf der Flucht, das Kind, das hoch über uns flieht, während dieses Konzerts. Das Kind, das im Moment seiner Geburt erschrocken ist vor der eigenen Existenz. Das schreit, sich wundert, zu leiden beginnt. Das sich umschaut und aufschreit, während zum ersten Mal Luft in seine Lungen einströmt. Heute, an diesem Totensonntag, kehrt es wieder zur Welt zurück. Der Geisterbeschwörer Guslar hat es zurück ins Leben gerufen. Hungrig ist das Kind. Und es freut sich darüber, dass es den Hunger zu unterdrücken gelernt hat. Es ist begeistert, zum ersten Mal seine Organe zu fühlen. Begeistert, dass sich ihm das Geheimnis des Lebens zum ersten Mal zeigt. Als das Kind zum ersten Mal etwas sagt, spricht es mit seinen Bauklötzen. Und es ist enttäuscht, dass die Dinge ihm keine Antwort geben. Es beginnt langsam zu verstehen, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, dass Dinge überhaupt etwas fühlen können. Dass die Dinge nie genau wissen können, ob sie selber am Leben sind. Aber steter Tropfen höhlt den Stein. Hätte der Stein Schmerz empfunden, dann hätte er sich fortbewegt. Das Leben fängt mit Schmerzen an. Die Kreatur fängt an zu existieren, wenn sie zum ersten Mal Schmerz empfindet und sich unter ihnen krümmt. Hunger, Angst, Traurigkeit, Liebe, Hass, Existenz - all das Leiden, das uns das Leben schenkt, all das Leiden, das uns Kraft gibt, vom Wasser dieser Erde zu trinken, einen Baum zu pflanzen oder Essen zu kochen, das gut und bitter schmeckt. Die Toten sind froh darüber, leiden zu dürfen. Die Lebenden rennen vor dem Leiden davon, verschließen die Augen vor ihm. Und der Geisterbeschwörer fragt sie:
„Seelen, sagt, was kann Euch frommen,
Um ins Himmelreich zu kommen?
Braucht Ihr Gebete, Litaneien
Oder lieber süße Leckereien?
Milch und Krapfen könnt Ihr haben,
Euch an Obst und süßen Beeren laben.
Seelen, sagt, was kann Euch frommen,
Um ins Himmelreich zu kommen?
Und ihre Antwort lautet:
„Nichts von alldem kann uns frommen.
Ach, es war zu süß auf Erden.
Wie sollen wir noch selig werden?
Ja, jetzt merk ich's und erfahr es:
Gar zu hold und wonnig war es.
Spielen, Kosen, Leckerbissen.
Nichts von Müh und Bitternissen.
Immer singen, immer springen,
Kränze für mein Hänschen winden,
Bitte gib uns keine Milch!
Bitte gib uns keinen Kuchen!
Was wir essen möchten fragst du.
Essen möchten wir nur Senf."
Aus der Ferne sah ich mich selbst im Konzertsaal. Ich bewegte mich keinen Zentimeter von der Stelle. Ich sah meinen Körper, als wäre er an den Stuhl festgenagelt und ich sagte: Nagelt mich ruhig fest. Erst schmeckte ich den Senf unter meiner Zunge, dann schmeckte ich etwas Süßes, dann hörte ich die Toten sagen:
"Hör mir gut zu und bedenke
Diesen weisen Ratschluss Gottes:
Wer auf Erden niemals Senf probiert,
Dem wird im Himmel kein Dessert serviert."
Die Lichter leuchteten auf die Gesichter des Chores. Rote Lichter, grüne und blaue, während im Hintergrund Gesichter aus dem polnisch-jiddischen Film „Der Dybbuk" aus dem Jahr 1938 erschienen. Gesichter von Totengeistern. Eine Frau ging zwischen Gräbern umher. Da näherte sich ihr ein Rabbi und sagte: „Wenn eine Braut bei ihrer Hochzeit allein gelassen wird, dann kommen die Dämonen und nehmen sie mit." Da umarmte die Frau einen Grabstein und sagte: „Dann werde ich alle Seelen mitnehmen, auch die Seelen unserer ungeborenen Kinder, auch die Kinder, die nicht meine sind, auch die ungeborenen Kinder, die verloren sind in Zeit und Ewigkeit."
Der Guslar ruft:
Ihr nun mit der schwersten Seele!
Deren Geist und Leib zugleich
Allzugrobe Schuld und Fehle
Kettet an das Erdenreich:
Brach die Erdenform in Trümmer,
Und der Todesengel rief,
Doch das Leben knirscht noch immer
In der Qual des Leibes, tief.
Ist's verliehen uns Menschenkindern
Solche grause Pein zu lindern,
An der Hölle offner Schwelle
Euch zu retten vor der Hölle:
Bei dem Reich, das euch erkoren
Bei der Flamme seid beschworen!
Es ist Zeit, zurückzukehren. Ich fragte die Toten, wie ich zurückkehren könne in meinen eigenen Körper. „Du musst träumen", sagten sie. Deine Träume müssen den Krieg überleben. Sie müssen den Krieg selbst besiegen. Den Krieg in Polen 1939. Und den syrischen Krieg, der noch nicht aufgehört hat. Und eines Tages wird an irgendeiner Bushaltestelle genau diese Musik wieder erklingen. Genau dieses Requiem. Und diese Musik wird größer sein als du und ich und alles, was über die Liebe und den Krieg schon gesagt wurde. Es wird ein Tag kommen, an dem man die Musik unserer Träume spielen wird. Träume sterben nicht, weißt du. Und Dinge sterben nicht. Sie wechseln nur ihre Form.
***
Kenan Khadaj, 1990 in Swaida/Syrien geboren, ist Journalist und Schriftsteller. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Damaskus, musste sein Studium jedoch aufgrund der politischen Situation abbrechen. Mit Beginn der Revolution 2011 nahm er die Arbeit als Journalist auf und schrieb für verschiedene syrische Zeitungen. Zudem engagierte er sich in Hilfsprojekten für kriegsgeschädigte Kinder und Erwachsene.2014 floh er in den Libanon und gelangte von dort über die Türkei nach Griechenland und schließlich nach Deutschland. Seit Mai 2015 lebt er in Berlin. Einige seiner journalistischen Texte erschienen in deutscher Übersetzung in der taz. „Es lebe der Krieg" ist sein erster Erzählband, der bisher noch nicht veröffentlicht wurde. Im Verlag Wiese / Moabit Mountain College erschien 2019 die Erzählung „Ich bin nicht Euer Hampelmann!"