HARMONIK DES EWIGEN
Das Quint-Oktav-Flimmern Gottes: Adolf Bernhard Marx' Oratorium "Mose" von 1841 wurde in der Berliner Gethsemanekirche auf explosive Weise wiederbelebt
Faszination und Schrecken gehen von der immensen Wucht des Oratoriums "Mose" von Adolf Bernhard Marx aus. Marx' Lehrer Carl Friedrich Zelter beschrieb schon ein früheres Stück dieses Mendelssohn-Gefährten als "wüsten Lärm", von dem "Kinder im Mutterleibe Gänsehaut kriegen müssen". Am Samstag bekam man, dem Mutterleibe entschlüpft, doch von der Berliner Gethsemanekirche beschirmt, Gänsehaut in einem fort: Zum ersten Mal seit 1853 ist dieser Koloss auf tönenden Füßen wieder aufgeführt worden. Unter der Leitung von Kai-Uwe Jirka fanden sich die Sing-Akademie zu Berlin, das Vocalconsort, der Staats- und Domchor, die Symphonische Compagney Berlin und ausnahmslos exzellente Solisten zusammen für eine brillante, entschiedene, explosive Aufführung. Man erlebte einen oratorischen Orkan, von dem einem Herz und Ohren flatterten.
Marx lebte von 1795 bis 1866 und gilt bis heute als wichtiger Theoretiker. Seine Bücher über Beethoven, Gluck und Händel haben den Kanon klassischer Musik geradezu aus der Geschichte gemeißelt. An der Wiederbelebung der Werke Bachs hatte er gemeinsam mit Felix Mendelssohn Bartholdy maßgeblichen Anteil. Sein Oratorium "Mose" geht auf ein Libretto zurück, das von Mendelssohn nach Texten der Lutherbibel zusammengestellt worden war. Aus einer jüdischen Arztfamilie stammend, hatte Marx sich evangelisch taufen lassen, nachdem eine Aufführung von Händels "Messias" ihn "bekehrt" hatte.
Dieses Ineinander von Musik und Leben, von religiös aufgeladenem Kunstkanon und jüdischer Akkulturation macht den "Mose" von 1841 so interessant. Bettina von Arnim hatte in ihrem Buch "Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" Beethoven den Satz in den Mund gelegt, dass Musik "höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie" sei. Man empfand im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts Musik tatsächlich - nicht bloß metaphorisch - als neue Offenbarungsreligion, als deren Stifter Beethoven galt. Dass diese Kunstreligion überkonfessionell war und einen so exponierten Platz in der bürgerlichen Werthierarchie einnahm, machte sie für Juden zur sozialen Hoffnung auf Teilhabe an der deutschen Mehrheitskultur.
Marx greift im "Mose" überall dort auf das Idiom von Beethovens Spätwerk zurück, wo "die Stimme Gottes" spricht. Gottes erster Ruf ist von leerem Quint-Oktav-Flimmern umgeben wie der Anfang von Beethovens Neunter. Vokale Archaik und abgründige Fortschreitungen der Harmonik wie aus der "Missa solemnis" sind weitere Erscheinungsformen des Ewigen. Die himmlische Verwünschung der Ägypter arbeitet mit solch grell-expressionistischen Tonartenkonfrontationen, dass auch Mendelssohn verschreckt war und eine Aufführung ablehnte.
Man müsste nun eingehend untersuchen, inwieweit Marx hier Beethovens Musik als überkonfessionelle Offenbarung wieder rekonfessionalisiert hat. Obwohl Marx protestantisch getauft war, ist der Akzent auf der Heilsexklusivität des Volkes Israel im "Mose" nicht zu überhören. Weniger als Konsensfundament wie in den Oratorien Mendelssohns denn als Streitforum wird die Idee einer musikalischen Kulturnation hier genutzt. Das zeigt sich auch in der Form, die nicht mehr in einzelnen Nummern zur Ruhe kommt, sondern den durchkomponierten, szenischen Fluss anstrebt. Eine erregende Konvergenz mit Richard Wagner deutet sich hier an: ein dezidiert jüdisches Oratorium als Modell des neuen Musikdramas.
Die Aufführung in der Gethsemanekirche war eine echte Tat. Mit Kai-Uwe Jirka als Dirigenten und Christian Filips als Dramaturgen haben die Sing-Akademie und der Staats- und Domchor in der Leitung neue künstlerische Strahlkraft und intellektuelle Dynamik gewonnen, im Deutschlandradio Kultur ist es in Kürze nachzuhören. Das Stück ist nicht besonders fasslich, trotz seiner eindrücklichen Energie. Aber kann ein Stück, in dessen Mitte der unfassbare Gott steht, überhaupt fasslich sein?
F.A.Z., 16. November 2009, Jan Brachmann
AUF HÖCHSTEM MUSIKALISCHEM NIVEAU
„Unser Graun ist hin, der rechtschaffenste Weltbürger, dessen Musik an unsere Seelen rührt“, zitierte Christian Filips, der charmant-informativ durch das Programm und Carl Heinrich Grauns Leben führte, aus dem Nachruf auf den preußischen Hofkomponisten. Musik für die Seele, dazu galante Musik im Stile der italienischen Opern selbst in den Kirchenmusiken und lebensverbunden im schönsten Sinne präsentierten die zwei Dutzend Berliner Sänger und Instrumentalisten der traditionsreichen Sing-Akademie und der im 25. Jahr existierenden Lautten Compagney eine Auswahl aus wenigen bekannten und wiederentdeckten Kompositionen. Beide Ensembles mit einem ausgeprägten Faible für die Adaption alter Musik präsentierten den etwa 250 Zuhörern in der Wahrenbrücker Kirche ein zweistündiges Konzert auf höchstem musikalischem Niveau. (…)Wahrenbrücks Pfarrer Michael Seifert war als Organisator des Konzertes in der Geburtsstadt Grauns gemeinsam mit dem Kreiskulturamt und der Elbe-Elster-Sparkassenstiftung voll des Lobes. „Auferstehn, ja auferstehn wirst du“, hieß es zum Schluss im Choral als Freudenszene am Grab. Auferstanden ist am Wochenende Carl Heinrich Graun mit seiner Musik in Wahrenbrück und Finsterwalde. ,,Im Elbe-Elster-Kreis lebt die Graunsche Musik“, betonte Seifert. Die Berliner Oper unter den Linden, die 1741 unter Grauns Leitung ins Leben gerufen worden war, habe auf eine Anfrage nicht einmal reagiert. Zum Glück gibt es in Berlin die beiden wunderbaren Ensembles, die sich der Musik der Brüder Graun angenommen haben. Die Zuhörer in Wahrenbrück dankten ihnen mit stehenden Ovationen.
Elbe-Elster-Rundschau,10. August 2009, Jürgen Weser
MOMENT MUSICAL
Wenn Ingmar Bergman, statt Filme zu drehen, komponiert hätte, wäre vielleicht so ein starkes, in seiner gestalterischen Konsequenz schockierendes Stück entstanden wie das Oratorium „Die Fragen des Bartholomäus“ von Katia Tchemberdji, das jetzt im Berliner Dom uraufgeführt wurde. Die Sing-Akademie (…) nutzte unter Kai-Uwe Jirka den gewaltigen Raum in all seinen Möglichkeiten. (…) Mit Mitteln der Mikrotonalität, archaischen Chorformen und in Anknüpfung an das Spätwerk von Schostakowitsch ist hier ein Werk äußerster Zuspitzung entstanden, das einen – mit Luther gesprochen – erschrocken und blöde im Herzen zurückließ.
F.A.Z., 4. Juli 2009, Jan Brachmann
(zur Uraufführung des von der Sing-Akademie zu Berlin in Auftrag gegebenen Oratoriums von Katia Tchemberdji)